Der Schweizer Philosoph Elmar Holenstein hat ein „Dutzend Daumenregeln zur Vermeidung interkultureller Missverständnisse“ aufgestellt.

 

Das Prinzip der hermeneutischen Fairness („Billigkeit“):  Wir billigen ein Urteil, wenn es der Sache angemessen ist. Das ist es, wenn es allen Umständen, dem gesamten Zusammenhang, in dem ein Gegenstand steht, Rechnung trägt. Bekannter als der Grundsatz der Billigkeit ist darum ein zweiter, daraus abgeleiteter Grundsatz der Hermeneutik geworden, demzufolge ein Text nur zusammen mit seinem Kontext, ein »Teil« nur zusammen mit dem »Ganzen«, zu dem es gehört, verständlich ist.

  1. Die Rationalitätsregel (Logikregel): Bevor wir Menschen, deren Sprache und Kultur fremd uns sind, unlogisches Denken zuschreiben, sollten wir eher davon ausgehen, dass wir sie missverstanden haben.
  2. Die Zweckrationalitätsregel (Funktionalitätsregel): Bevor wir die wörtliche Bedeutung eines Satzes nicht von dem damit verfolgten Zweck unterscheiden können, erscheinen viele Äußerungen als irrational.
  3. Die Menschlichkeitsregel (Natürlichkeitsregel): Bevor wir Menschen aus einer anderen Kultur sinnloses, unmenschliches oder unmündiges Verhalten unterstellen, sollten wir eher den eigenen Wissenshorizont infrage stellen.
  4. Die „Auch-wir“-Regel (Nos-quoque-Regel): Finden wir in einer fremden Kultur Vorkommnisse, die wir nicht hinzunehmen bereit sind, ist es nicht unwahrscheinlich, auf solche Vorkommnisse auch in der eigenen Kultur zu stoßen.
  5. Die „Auch-ihr“-Regel (Vos-quoque-Regel): Stoßen wir bei einer fremden Kultur auf Vorkommnisse, die wir nicht hinzunehmen bereit sind, ist es wahrscheinlich, dass auch Vertreter*innen der fremden Kultur diese Ereignisse ablehnen.
  6. Die Anti-Kryptorassismus-Regel: Wir sollten uns der Neigung bewusst werden, Mängel und Übel bei anderen übersteigert wahrzunehmen, zu verallgemeinern oder zu verabsolutieren. Die gelungene Analyse einer fremden Kultur wirft immer auch ein erhellendes Licht auf die eigene Kultur.
  7. Die Personalitätsregel: Angehörige anderer Kulturen sollten nicht bloß als Untersuchungsgegenstand oder Informationslieferant*innen behandelt werden, sondern auch als Untersuchungspartner*innen.
  8. Die Subjektivitätsregel: Wir sollten Selbstzuschreibungen – seien sie nun überschätzender oder unterschätzender Natur – stets kritisch gegenüber stehen.
  9. Die „Ist-Zustand/Soll-Zustand“-Regel (Ontologie-Deontologie-Regel): Aus dem Umstand, dass moralische Normen in einer Kultur expliziert formuliert sind, folgt noch nicht, dass diese Normen tatsächlich allgemeine Praxis sind.
  10. Die Entpolarisierungsregel (Anti-Kulturdualismus-Regel) : Wir sollten die stereotype Bildung von Gegensatzpaaren (wie etwa männlich – weiblich; rational – emotional; okzidental – oriental) möglichst vermeiden.
  11. Die Inhomogenitätsregel: Wenn wir Kulturen als homogen begreifen, nehmen wir ihre Besonderheiten, Strömungen und Gegenströmungen nicht mehr wahr.
  12. Die Agnostizismus-Regel: Wir sollten von der Annahme ausgehen, dass auch Menschen in anderen Kulturen keine befriedigende Antwort auf die Frage nach Gott oder dem Ursprung des Seienden finden. Es gibt Geheimnisse, die in allen Kulturen und über sie hinweg, transkulturell, ein Geheimnis bleiben. Natürlich können auch Beweise der Unentscheidbarkeit auf irrigen Voraussetzungen beruhen und täuschen. Dennoch können wir darauf gefasst sein, in keiner Kultur eine befriedigende Antwort auf Leibniz‘ Frage zu finden: Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Dasselbe gilt für Lockes Frage, wie es möglich sei, dass bare, nicht denkende Materie ein denkendes, intelligentes Wesen hervorbringe. Was wir in anderen Kulturen lernen können, ist höchstens, wie wir vor solchen Fragen Halt machen.

Ich persönlich denke, dass die Beachtung dieser Regeln nicht nur in einer globalisierenden Welt sondern auch im eigenen Mikrokosmos der sozialen Gruppen, der ländlich oder städtisch geprägten Gesellschaft, u. ä. hilfreich sind.

(Quellen: Vom Denken – Einführung in die Philosophie, Verlag hpt; https://them.polylog.org/4/ahe-de.htm)